B21On – die Zusammenfassung einer Fehlplanung

5. Juni 2024 12:46 Uhr. Veröffentlicht von . Schreibe einen Kommentar

Der Wunsch als Vater des Gedankens
Vor 40 Jahren war die Auricher Kommunalpolitik im Modernisierung-Fieber. Aurich hatte den Sitz einer Bezirksregierung verloren. Umso wichtiger sei es nun, so die Überzeugung, aus der Beamtenstadt eine pulsierende Metropole zu machen. Erstes Projekt war der Bau eines Gebäudekomplexes aus Kreishaus und einem Konsum- und Vergnügungszentrum, damals „Henns-Center“ genannt, heute „Carolinen-Hof“. Dessen Ansiedlung außerhalb des historischen Stadtkerns war nicht unerwünscht, wollte man doch den Einkaufsbereich durchaus über diesen Kernbereich hinaus in alle Richtungen erweitern.

Dieser Erweiterung stand aber faktisch der Ring aus teilweise mehrspurigen Straßen entgegen, der den historischen Stadtkern umschloss. Den Fischteichweg, der den Carolinenhof von der Innenstadt trennte, wagte man so zu verengen und mit Zebrastreifen zu kreuzen, dass er für Fußgänger kein besonderes Hindernis mehr darstellte. Für die Linien der Bundesstraßen, welche die Bereiche der Kaufhalle, der Geschäfte zwischen Esenser Straße und Hoheberger Weg und den Bereich der Fockenbollwerkstraße von der Innenstadt trennten, kam so etwas wegen des hohen Verkehrsaufkommens nicht in Frage.

Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, den dortigen Verkehr auf eine außerhalb der Stadt zu bauende Umgehungsstraße umzuleiten. Den Bau sollte das Bundesverkehrsministerium finanzieren. Schließlich ging es um die Ortsdurchfahrt der Bundesstraßen B72 und B210.

Im Dezember 1992 wurden die Pläne konkret. Am 03.12.1992 berichteten die Ostfriesischen Nachrichten, dass der Bund einen Zubringer von Aurich zur Autobahn A31 nebst einer „Nordumgehung“ Aurichs als sogenannten ,,Vorentwurf‘ in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplanes aufgenommen habe. Das sollte bedeuten, dass das weitere Ob und Wie auch von städtischen Wünschen und Plänen abhing. Ein Ausbau der B72 Aurich-Hesel wurde hingegen nur in den „weiteren“ Bedarf aufgenommen.

Am 17.12.1992 befasste sich der Auricher Stadtrat mit der Situation. Es wurde ein Ratsbeschluss gefasst, Pläne für eine Umgehungsstraße nebst Zubringer zu verfolgen. Darüber berichtete die ON am 19.12.1992. In der Folge beauftragte daher die Stadt ein Gutachterbüro aus Hannover, Argumente für den Bau einer vom Bund finanzierten Umgehungsstraße und eines Autobahnzubringers zu erarbeiten. So begann das Projekt „B210n“, dem bis heute andauernden und stetig fortschreitenden Prozess, eine Umgehungsstraße zu bauen.

Erste Rückschläge
Das beauftragte Gutachten traf im Spätherbst 1995 in Aurich ein und wurde zunächst in einer geheimen Ratssitzung vorgestellt. Es brachte für die Kommunalpolitiker eine eiskalte Dusche:
Der Bund würde weder Zubringer noch Umgehung finanzieren, weil die verkehrlichen Voraussetzungen dafür weit verfehlt würden.

Am 15.12.1995 berichteten die Ostfriesischen Nachrichten über dieses Ergebnis und die Reaktionen. Schwerpunkt: das Gutachten verneinte eine ausreichende Verkehrswirkung sowohl für einen Zubringer zur A31 als auch für eine Umgehung um Aurich. Die zentralen Gründe lägen in dem Umstand, dass die Verkehre aus verschiedensten Richtungen nach Aurich hinein oder aus dem Zentrum in verschiedenste Richtungen hinaus wollten, zusammen mit Binnenverkehr kreuz und quer zwischen den Ortsteilen. Man sprach von überwiegendem Ziel- und Quellverkehr, der sich nicht auf einer Trasse konzentrieren ließe.

Davon aber war zum Beispiel der damalige Stadtdirektor Friemann nicht überzeugt. Schon in der genannten Ausgabe der ON wurde er mit der Überlegung zitiert, den Verkehr in Aurich zu bündeln, das heißt irgendwie auf die Umgehungslinie zu zwingen, um dort das für die Finanzierung nötige Verkehrsaufkommen zu erzeugen. Am 20.12.1995 berichteten die ON ausführlicher über die Reaktionen aus der Politik. Stadtdirektor Friemann sagte einen in Kürze bevorstehenden Verkehrsinfarkt voraus. Man wisse, dass der Verkehr in Aurich in den kommenden Jahren (Prophezeiung von 1995, also vor fast 30 Jahren!) zusammenbrechen werde, daher müsse man über eine Umgehung nachdenken.

Jedenfalls beschloss der Verwaltungsausschuss, mit Haushaltsrestmitteln ein neues Gutachten zu der Frage einzuholen, wie man den Verkehr so bündeln könne, dass sich eine Umgehungsstraße rechne. Die ON kommentierten dazu, es handele sich dabei um ,,Arbeit an einem Luftschloss“. Soweit Aurich Verkehrsprobleme habe, würden diese nicht durch Mangel an Straßen, sondern durch eine planlose Siedlungspolitik verursacht. Ohne Rücksicht auf die Folgen für den Verkehr bekomme jeder Ortsbürgermeister seine Baugebiete dort, wo er sie gerne hätte. Das sei es, was vorab geändert werden müsse.

Die Diskussion nimmt Fahrt auf
Schon am 21.12.1995 konnten die ON ausführlicher über den Diskussionsstand – damals noch in Fachkreisen – berichten. So verwies der damalige Leiter des Straßenbauamtes, Herr Schmidt, darauf, dass ein Autobahnzubringer zur A31 bei Riepe für viele Verkehrsteilnehmer einen Umweg bilde. Schon jetzt bevorzuge der Verkehr die Strecke über die B72 zur A28.

Diese Strecke werde bei einem Ausbau des gerade begonnenen Gewerbegebiets Schirum in Zukunft noch interessanter. Daher habe auch das von der Stadt beauftragte Gutachterbüro den Ausbau der Linie Aurich-Hesel-Filsum als Alternative vorgeschlagen. Von der Linienführung her ideal wäre eine Direktverbindung über Timmel nach Neermoor zur A31, die sei aber nicht ausbaufähig. Es gebe dort überall lockere Bebauung, und die Landschaftspflege würde eine solche Planung zu verhindern suchen.

Am 22.07.1996 veröffentlichten die ON ein Interview mit dem damaligen Stadtbaurat Rogalla, unter anderem zur Umgehungsstraße. Rogalla ging (1996!) davon aus, dass ohne Umgehungsstraße die Auricher Straßen in wenigen Jahren hoffnungslos verstopft sein würden. Allerdings helfe eine Umgehungsstraße allein nicht weiter, da Aurich ja nicht am Durchgangsverkehr, sondern an Ziel- und Quellverkehr leide. Darum werde intensiv daran gearbeitet, dem Verkehr durch „leitende und verhindernde Regelungen“ die Umgehungsstraße schmackhaft zu machen.

Ein Problem sei ferner, dass eine im Westen der Stadt verlaufende Umgehung für die östlichen Stadtteile nichts bringe. Am 22.08.1996 berichteten die ON über eine Stellungnahme des Staatssekretärs Carsten, aus dem Bundesverkehrsministerium. Dieser meinte, die Ergebnisse der Verkehrszählung hätten die geplante Trasse nach Riepe überflüssig gemacht, so dass man nun über die Linie über die B72 nach Hesel wieder „intensiv“ nachdenken müsse. Die ON kommentierten dazu, dass das ja auch die richtige Trasse sei, weil ein Aufbohren der B72 sehr schnell, mit geringen Kosten und ohne große Umweltprobleme zu lösen wäre.

Ganz anders äußerte sich der Oldenburger Regierungspräsident Theilen. Die ON vom 13.09.1996 zitierten ihn damit, dass eine Neubaustrecke von Aurich nach Riepe mit 14 Kilometern nur halb so lang wäre wie ein Ausbau der B72 nach Filsum. Sie wäre daher billiger und sogar günstiger für eine Anbindung nicht nur nach Süden, sondern auch nach Osten. Wichtig sei auch, dass dieses Projekt schon im Bundesverkehrswegeplan stehe. Wenn man jetzt auf einen Ausbau der B72 umschwenke, verliere man Zeit. Der Auricher Oberkreisdirektor schloss sich dem Regierungspräsidenten an und meinte, Aurich müsse jetzt mehr Druck machen (ON vom 18.10.1996).

Die B72-Lösung wird aufgegeben
Der Leiter des Auricher Straßenbauamtes hielt zunächst noch an seiner bisherigen Ansicht fest, dass eine Autobahnanbindung Aurichs über Riepe unzweckmäßig sei. Gemäß ON vom 02.11.1996 sagte er, die Anbindung Aurichs solle besser über den Raum Leer-Nüttermoor erfolgen. Dazu müsse aber im Zuge der B210 ein Verkehrsring von Sandhorst westlich um Aurich herum nach Schirum geschaffen werden.

Während in der Folgezeit sich Kommunalpolitiker in Ihlow zunächst noch für den Zubringer nach Riepe einsetzten, wenn auch unter dem Vorbehalt der Verträglichkeit mit Landwirtschaft und Umwelt (ON vom 06.11.1996), sprach sich Großefehn damals nachdrücklich für den Ausbau der B72 nach Hesel aus. Man erhoffe sich davon einen regelrechten Boom in den eigenen Industrie- und Gewerbegebieten (ON vom 28.12.1996).

Kurz danach aber meldeten sich in Großefehn Bedenkenträger. Bei einem Ausbau der B72 werde der Verkehr in Westgroßefehn stark zunehmen. In Mittegroßefehn müsste eine Umgehung gebaut werden, die zum Beispiel die dortige Tankstelle vom Verkehr abschneiden würde (ON vom 04.01.1997). Darum, so Teile der SPD, müsse der Ausbau der B72 abgelehnt werden. Während in der Auricher Stadtverwaltung nun intensiv an der möglichen Linienführung der Umgehung auf Auricher Gebiet planerisch gearbeitet wurde, warnten die Auricher Grünen als erste politische Partei vor den daraus resultierenden gravierenden Umweltschäden (ON vom 20.05.1997). Der Bau würde eine „Schlacht gegen Natur und Umwelt“. Es müsse Verkehrsverminderung durch Stärkung des Bus- und Bahnverkehrs angestrebt werden.

Die Bombe platzt
Am 18.06.1997 veröffentlichte die ON die inzwischen entwickelten Pläne der Auricher Stadtverwaltung. Es wurde nicht nur die Linienführung der Umgehungsstraße vorgestellt, sondern auch das, was im Vorjahr Stadtbaurat Rogalla mit „Schmackhaft machen durch Leiten und Verhindern“ gemeint hatte. Wichtige innerörtliche Straßen sollten wie in einem militärischen Strategiespiel so gesperrt werden, dass der innerörtliche Verkehr über möglichst weite Umwege möglichst lange über die Umgehungsstraße fließen müsste.

Die Planung war perfekt wie aus einem preußischen Generalstab: Wer zum Beispiel aus irgendeinem Grund mit dem PKW vom Berliner Ring oder von der Kiebitz Straße zur 800 Meter entfernten Tiefgarage unter dem Carolinenhof hätte fahren wollen, hätte zunächst stadtauswärts Richtung Ludwigsdorf zur Umgehung fahren müssen. Sodann wäre die Umgehungsstraße westwärts zu benutzen gewesen, und zwar an Rahe und Extum vorbei bis zur Emder Straße, und dann über die Julianenburger Straße zum Caro. Auf dem Rückweg wäre nach dem Verlassen der Tiefgarage nur der Weg über die Leerer Landstraße nach Middelburg, dann über die Umgehung nach Kirchdorf und zurück über die Kirchdorfer Straße möglich gewesen. Kreuzstraße, Kirchdorfer Straße, Oldersumer Straße und Fischteichweg wären nämlich jeweils in der Mitte unterbrochen worden. Umwege im Beispielsfall zweimal fünf Kilometer, davon sechs auf der Umgehungsstraße.
Die Pläne schlugen wie eine Bombe ein. Die Ostfriesischen Nachrichten fassten am 24.06.1997 die Stimmung in der Stadt zusammen in der Überschrift ,,Aberwitziger Planungsquatsch“.

In den folgenden Wochen kam es zu teilweise hitzigen Diskussionen, über die die ON auch wiederholt berichteten. Die Verknüpfung des Projektes „Umgehungsstraße“ mit einer flächendeckenden Lähmung des innerörtlichen Straßennetzes trug stark dazu bei, Ablehnung in der Öffentlichkeit zu erzeugen. Dazu kamen Gesichtspunkte der Umweltzerstörung und der Verlärmung ausgedehnter Wohngebiete, denn die Trasse sollte ja quer durch Middelburg, Kirchdorf, Rahe und Walle sowie dicht an den Wohngebieten von Extum und Sandhorst entlangführen. Außer in Middelburg gab es in den genannten Ortsteilen bisher keinen Verkehrslärm, und der Lärmgürtel, vom vorherrschenden Südwestwind getragen, würde mindestens 600 bis 800 Meter weit in diese Siedlungen hineinreichen.

Schon am 26.06.1997 begann mit CDU-Ratsherr Bontjer eine Distanzierung von den Plänen zu Straßensperrungen (ON vom 25.06.1997). Schon am Folgetag konnten die ON von erheblichen Bedenken seitens weiterer Ratsmitglieder berichten. Umgehungs-Befürworter wie Bürgermeister Stöhr oder Fraktionsvorsitzender Mittelstädt (SPD) versuchten für eine Zustimmung des Rates mit dem beruhigenden Argument zu werben, ein „Ja“ bedeute nichts, man könne es sich in 10 Jahren immer noch anders überlegen. Inzwischen hatte der wachsende Unmut zur Gründung einer gegen das Projekt gerichteten, noch kaum organisierten Bürgerinitiative geführt, worüber die ON am 17.07.1997 berichteten.

Für immer festgeklopft
Der Bürgerprotest – es wurden in kurzer Zeit tausende von Protestunterschriften gesammelt – blieb erfolglos. Der Rat stimmte den Plänen zur Umgehungsstraße zu. In den Folgejahren wurde die vom Rat gewollte Linienführung in den städtischen Flächennutzungsplan eingezeichnet. Dieser wurde zur Grundlage für einen Eintrag im Raumordnungsprogramm des Landkreises. Der Bund übernahm das konkretisierte Vorhaben gemäß der städtischen Planung in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplanes. Danach folgte der Bund auch bei der amtlichen Linienbestimmung weitgehend den Auricher Ratsbeschlüssen zum Verlauf der Umgehungsstraße.

Das Straßenbauamt als Landesbehörde seither ist mit der Ausführungsplanung beauftragt. Über die Fragen der Zweckmäßigkeit, der alternativlosen Notwendigkeit, über Naturschutz und Klimaschutz, wird nur noch von Skeptikern und Gegnern gesprochen. CDU, SPD, FDP und AWG befürworten das Projekt. Von der AFD sind keine konkreten Stellungnahmen bekannt. Massiv gefördert wird auf politischer Ebene das Projekt von einem Verein „pro B21On“, in dem sich Politiker mit Unternehmern – schwerpunktmäßig aus der Bauwirtschaft und ihrer Zulieferer – zusammengeschlossen haben.

Gegner haben sich in dem Verein „Bürgerinitiative Landschafts- und Naturschutz Aurich e.V.“ organisiert, die sich dafür von einem früheren Bürgermeister als „Krakeeler“ beleidigen lassen mussten. Weitere Gegner finden sich auf örtlicher Ebene bei allen Naturschutzverbänden einschließlich Jägerschaft, bei Linkspartei und Grünen.

Der Öffentlichkeit, die seit Jahren vom Straßenbauamt nicht mehr beteiligt oder informiert wird, wird der aktuelle Planungsstand verschwiegen. Es ist aber mit der baldigen Einleitung des Planfeststellungsverfahrens für die Umgehungsstraße zu rechnen.

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Dieser Artikel wurde verfasst von Terranova

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